Soviel man essen kann

Ich weiß nicht, ob es diese Einrichtung hierzulande auch schon gibt. In den USA gibt es Salat Büffets, und da kann man essen, so viel man will bzw. kann. Das kenne ich hier eher von den alles-inklusiven Hotelangeboten. Jetzt fällt es mir ein – das gibt es hier beim Brunch!

Vor ein paar Tagen las ich irgendwo „all you can eat“ und Erinnerungen kamen hoch. Als Kind bin ich ab und zu mit meiner Familie in einem Steakhouse (mit Salat-Büffet) essen gewesen. Um Geld zu sparen, haben wir uns am Salatbüffet satt gegessen, und nahmen das Fleisch mit nach Hause für das nächste Abendessen. Damit es sich lohnte, aßen wir oft mehr, als wir eigentlich brauchten.

Viele Jahre später, als junge Frau in New York City, ging ich mit meiner besten Freundin (ebenfalls eine Magersuchtsbulimiekranke) in Greenwich Village essen – in einem Restaurant mit Salat-Büffet. Das war eigentlich zur Beginn meiner Gesundung, denn mitten in der Krankheit wäre ich ganz sicher niemals absichtlich mit jemandem (fr)essen gegangen. Da hätte ich mich zu sehr geschämt, jemandem zu zeigen, was ich für Mengen imstande war zu verschlingen. Also war es für mich eben ein Fortschritt, nicht alleine zu essen. Wir saßen am Tisch, holten uns immer wieder Nachschub, lächelten, unterhielten uns, und gingen abwechselnd aufs Klo. Das Klo dort war ideal – nur für eine Person. Da konnte man zusperren und hatte keine Sorge, „entdeckt“ zu werden.

Tja, und jetzt bin ich gesund und esse so viel, das ich brauche. Daher ist ein „soviel man essen kann“ Angebot für mich nicht besonders interessant. (Doch finde ich es schon angenehm, stundenlang beim Brunch zu sitzen, sich gut zu unterhalten, und hier und da nach Lust und Laune eine Kleinigkeit zu essen holen.)

Aber das Phänomen an sich finde ich schon interessant. Ob es noch ein Überbleibsel aus der Jäger-und-Sammler-Zeit ist? Stellt euch vor, jemand hätte damals ein Salat-Büffet aufgestellt! Die hätten sicher geglaubt, sie sind im Himmel!

Ist es vielleicht ein Instinkt, dass wir mehr essen, wenn mehr vorhanden ist, weil wir einfach so programmiert sind? Es könnten Zeiten kommen, in denen es nichts gibt. Heutzutage ist die nächste Essensquelle (für uns privilegierten Menschen in der westlichen Welt) nicht weit und die Gefahr, dass wir auf dem Weg dorthin vor Hunger sterben, ist nahezu ausgeschlossen. Dennoch stopfen viele rein wenn viel vorhanden ist, als gäbe es Morgen nichts.

Das erinnert mich an noch etwas Instinktives. Mir wurde irgendwann klar, dass ich oft total übertrieben reagiere, wenn ich das Gefühl habe, jemand greift mich an (verbal, versteht sich!). Es konnte noch so subtil sein, da stieg in mir eine Aggression hoch und ich war bereit, mich (oder meine Kinder) bis zum Tode zu verteidigen. Da merkte ich, dass das vielleicht auch so ein altes Überbleibsel von früher ist. Seither bin ich bemüht, in der Situation zu bleiben und dementsprechend zu agieren. Da kommt viel weniger Ärger auf und die Interaktionen sind angenehmer bzw. zufriedenstellender geworden, weil ich lernte, mit den Menschen einfach zu reden.

Da fällt mir noch etwas ein! Viele von uns Ess-Gestörten erzählen, dass wir gelernt haben, in der jeweiligen Familien/Lebenssituation zu überleben. Wir sind SpezialistInnen, was Überleben betrifft. Für mich ist es eine Herausforderung, zu leben und das Leben zu genießen. Ich bin in der glücklichen Lage, dass diese Möglichkeit besteht — von den Rahmenbedingungen her. Dennoch erfordert es ein Umdenken, wenn ich leben statt nur überleben will.

Ja, und ich denke so: Jeder hat viel aus der menschlichen Entwicklung mitgenommen und viel aus der familiären Entwicklung mitgenommen, und jetzt bin ich in der glücklichen (?) Lage, den ganzen Mist auszusortieren und das Richtige für mich zu finden. Das bedeutet (wie ein richtiger Mensch eben), reflektierter zu handeln. Wir haben riesige Fortschritte in der Technik gemacht, aber psychisch/emotional hapert es noch ein bisschen. Da gibt es noch viel zu tun. Gemeinsam werden wir das schon schaffen!

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