Etwas weniger als ein Jahr

Heute habe ich diese Kerze für jemanden angezündet.
Das Wachs fasziniert mich. Sind es Tränen? Oder Schnee? 
Oder gar ein Flügel, vielleicht von einem Schutzengel?

Folgendes Gedicht habe ich vor ein paar Tagen geschrieben:

Nicht ganz ein Jahr

Ein paar Tage weniger als ein Jahr sind vorbei
doch noch immer die Frage: Warum muss das denn sein?
Wir hatten unsere kleine Welt aufgebaut
gemeinsam unser Glück und Schicksal vertraut.

Beim Aufwachen hast du dich wie ein Kind gefreut
der schlaf lag noch in deinem zerzausten Haar
die gestrige Kleidung über den Stuhl verstreut
du warst bereit für den Tag, ahntest nicht die Gefahr.

Der Countdown schmerzhaft bewusst
das Jahr nähert sich dem Ende
vor einem Jahr haben wir uns noch geküsst
aber bald, mein Allerliebster, kommt die Wende.

Alle Feiertage wurden einmal ohne dich erlebt
sogar dein runder Geburtstag
manche Tage will ich nicht aufstehen, die Traurigkeit klebt
an mein Herz, schwer vom Schicksalsschlag.

Das zweite Jahr führt dich noch weiter weg
die zarte Verbindung wird gerissen
keine Zauberkraft hilft es zu stoppen
und ich werde dich immer vermissen.

Morgens schwebst du in meinen Träumen
Ich will dich dort halten, es wirkt so echt
Doch ich wache auf zu leeren Räumen
Du wohnst nicht mehr hier auf dieser Erde.

Manchmal reden die Kinder im Schlaf
Bilder aus euren früheren Streifen
Sara wünscht sich, alles wär‘ nur ein Traum
Nora’s Kleinkindherz strebt zu begreifen.

Wir lachen, weinen, und leben jeden Tag,
bin mir sicher, du würdest es so wollen 
Wärme aus alten Erinnerungen
hilft mir die Kraft für Morgen zu holen.

Neblige Grüße: Antwort auf einen Brief

Vor einiger Zeit habe ich einen Brief von einer Leserin bekommen. Ich bin überzeugt, dass sie für viele spricht. Deshalb habe ich sie gefragt, ob ich den hier bringen darf. Ich stelle mir vor, es können viele etwas damit anfangen. Vielleicht habt ihr auch Gedanken/Ideen dazu…?

„Liebe Alice,
Ich schreibe dir heute nochmal, weil ich einfach meine Gefühle loswerden muss.
Es hat sich bei mir viel getan in letzter Zeit. Ich habe dir ja erzählt, dass ich eine neue Arbeit habe. Die hat sich mehr oder weniger zum Positiven entwickelt. Was heißen soll, dass ich mich bei der neuen Arbeit ganz wohl fühle und meine noch vor 1 Monat bestehende Angst, dass ich das alles überhaupt nicht schaffen könne, ist Gott sei Dank verschwunden.

Nicht so meine Essattacken und mein Selbsthass, der momentan überhaupt nicht aufhören will. Bei mir schaut es momentan so aus, dass ich nur noch eine geringe Anzahl von Kleidungsstücken anziehen kann, weil sonst unweigerlich mein zur Zeit wirklich großer Bauch heraussteht und ich mich dafür wirklich geniere. Dazu kommt, dass ich mir einfach kein neues Gewand kaufen will, weil ich ja in meine alten Sachen wieder hineinpassen will. Nur: das versuche ich jetzt schon seit über 2 Monate und meine Essattacken werden nicht weniger. Ich habe keine Lust mehr und auch keine Kraft weil es mir vorkommt, als drehe sich immer alles im Kreis. Und: weil es mir so vorkommt, als werde durch das Abnehmen auch „nichts“ besser. Ich bin ja doch nie zufrieden mit mir!

Ich sehe dann immer „die Anderen“, was sie alles erreicht haben und wie weit sie sind, und mich selbst mache ich immer viel kleiner als ich eigentlich bin.

Niemals komme ich auf die Idee, selbst einmal etwas geleistet zu haben oder etwas zu finden, worauf ich stolz bin. Nein, das stimmt nicht, manchmal vielleicht, aber das dauert dann immer nur kurz an und dann brauch ich nur wieder zu viel zu essen oder irgendetwas läuft nicht nach „dem Plan, den ich mir halt so vorgestellt habe“ oder ich habe Bauchweh oder sonst irgendetwas und dann läuft schon wieder alles den Bach runter.

Irgendwie habe ich manchmal gar keine Idee mehr, wie ich mein Leben gestalten sollte. In letzter Zeit komme ich ganz oft drauf, dass ich gar nicht wirklich weiß, was im Leben ich will. Vielleicht hab ich auch zu viel Zeit um nachzudenken. Manchmal stimmt das gewiss. Andererseits bin ich dann aber auch wieder bald einmal überfordert und habe keine Ahnung, wie ich die vielen Dinge, die ich mir vorgenommen habe, alle bewältigen soll.

Warum ich dich so „volllabere“ ist, dass ich zur Zeit sehr verzweifelt und unglücklich darüber bin, dass meine Krankheitsgeschichte schon 20 Jahre (!) dauert. Und was noch ist: Ich renne von Arzt zu Arzt, von Therapeut zu Therapeut, ich vertraue allen möglichen wildfremden Menschen meine Probleme und meine tiefliegendsten Bedürfnisse und Schmerzen an, immer in der Hoffnung, dass mir doch jemand „da draußen“ hilft. Und das will ich nicht mehr. Ich will mir endlich selbst einmal vertrauen können und ich will da selbst meinen Weg herausfinden.

Dass ich einmal ein Buch darüber schreibe ist mir auch schon oft in den Sinn gekommen. Hat es dir geholfen, dass du über die ganze Thematik besser hinweggekommen bist oder hast du das Buch erst zu schreiben begonnen, als du mehr oder weniger schon „über den Berg“ warst?
Vielleicht hast du ja Lust, mir zu antworten, es würde mich freuen!
Liebe Grüße…“

„Liebe P–
Auch hier ist es nebelig! Und momentan kommt es mir vor, als hätten viele Menschen große Schwierigkeiten und Stimmungsschwankungen. Ich merke auch bei mir — es tut sich so viel, innen und außen, und ich könnte jeden zweiten Tag brauchen, um das alles zu verarbeiten. Leider geht es nicht.

So kann ich ganz gut nachfühlen, wie es dir geht. Aber, zu deiner Situation. Erstens, freue ich mich für dich, dass es bei der neuen Arbeit klappt. Das ist aber anstrengend, auch wenn es eine erfreuliche Veränderung ist. Du wirst dich auch erholen können. Irgendwo neu anzufangen kann auch eine harte Probe für den Selbstwert sein. Oft neigt man dazu, viel von sich zu erwarten, und jeden noch so kleinen „Fehler“ (oder „Anfagsschwierigkeit“ oder „Lernschritt“) hart zu kritisieren. Ich wünsche dir, dass du mit dir selbst geduldig sein kannst.

Hast du schon mal deine Biographie aufgeschrieben? So in Stichwörter? Das kann recht interessant sein. Auf einen Zettel alle Jahre auflisten, von der Geburt angefangen, und dann aufschreiben, was du alles geschafft hast. Es beginnt tatsächlich mit der Geburt. Dann konntest du sitzen, stehen, laufen… hast vielleicht den Kindergarten besucht, die Volksschule geschafft…. und so weiter. Bis heute. Vielleicht dabei auch achten, welche Menschen zu welcher Zeit dir besonders wichtig waren. Einfach so, und das auf dich wirken lassen. Du hast bisher schon viel geschafft!

Jeder Mensch, auch die Kollegin mit der netten Bluse, kämpft. Jede hat ihre Schwierigkeiten, Unsicherheiten, Zeiten in denen das Selbstwert kaum vorhanden zu sein scheint. Sie sind nicht alle besser dran. Wir nehmen nur Momentaufnahmen wahr, und der Eindruck kann wirklich täuschen!

Du hast jetzt einen Bauch. Der gehört auch zu dir, und so ist es im Moment. Was hast du noch? Wer bist du noch? Du bist DU — viel mehr als nur dein Bauch. Oft sind wir kurzsichtig. Über einen längeren Zeitraum, z.B. ein Jahr, kann sich das ändern. Von heute auf morgen nicht. Das weißt du im Kopf, aber verlange es nicht von deinem Körper.

Bist du dir ganz sicher, dass du über den Tag genug isst? Das ist ganz wichtig! Wenn du ständig zu wenig isst, der nächste Heißhunger kommt bestimmt! Stelle es dir so vor, dass du dich ernährst. Du gibst dir die notwendige Energie, um durch den Tag zu kommen. Und abends bist du sicher k.o. nach dem anstrengenden Tag. Okay, das ist eine Projektion — so geht es mir in letzter Zeit. Aber bei einer neuen Arbeit, stelle ich mir das einfach so vor.

Wie sieht denn dein Abend aus? Wie schaltest du ab? Welche Möglichkeiten hast du? Vielleicht ein Spaziergang, wenn auch nur einmal um den Häuserblock um frei zu atmen und den Arbeitstag abzustreifen. Ein Nickerchen. Telefonieren. TV. Eine Tasse Tee zum Einstimmen auf den Abend. Kurz hinsetzen und 5 Minuten eine Achtsamkeitsübung machen — Augen schließen, spüren, wie die Füße gut auf dem Boden stehen, wie der Stuhl dich trägt, mit jedem Ausatmen etwas Spannung loslassen. Einfach sein. Oder eine Gehübung: durch die Wohnung gehen, zuerst alles hängen lassen — Hände, Kopf, Schultern. Dann aufrecht gehen. Spüre den Unterschied: Wie fühlt es sich an? Achte auf den Kontakt von deinen Füßen auf den Boden. Wie gehst du? Probiere es aus einmal schneller, einmal langsamer zu gehen. Wie gefällt es dir am Besten? Gehe, als wärest du glücklich, sauer. Geh schimpfend durch die Gegend. Probiere es einfach aus. Du hast Therapien gemacht, also kennst du diese Übungen bestimmt.

Ohne dich zu werten, zu hassen, zu lieben, tue es einfach und sei da. Das ist alles. Und spüre nach: Wie geht es dir? Wenn du einsam bist, dir langweilig ist, kannst du es zulassen? Benennen? Wenn du das schaffst, vielleicht gelingt es dir, etwas anderes zu tun. Oder wenn du dich mit etwas zum Essen „belohnen“ willst, dann genieße es! Esse langsam, nehme den Geschmack wahr, und kritisiere dich nicht! Es könnte sein, dass du mit weniger auskommst.

Das sind lauter „Tipps“, aber nur du weißt, was für dich passt. Vielleicht fällt dir etwas anderes ein. Du hast selbst gesagt: „Ich will mir endlich selbst einmal vertrauen können und ich will da selbst meinen Weg herausfinden.“ Und ich glaube, du bist schon auf dem Weg.

Geduld, Geduld, Geduld — mit sich selbst. Du bist auf dem Weg, egal was du tust und wie es jetzt aussieht.

Vielleicht ist es zu viel, jetzt zu wissen, was du im Leben willst? So allgemein. Ich habe es eher so erlebt, dass sich das Leben nur langsam und prozess-orientiert gestalten lässt. Mein Leben vor 10 und 20 Jahren hat ganz anders ausgesehen als jetzt. Damals hätte ich mir nie gedacht, dass alles so kommt. Hätte ich auch nicht planen können — oder doch planen, aber wie immer: Es kommt wie es kommt. Es ist wie es ist.

Hast du kleinere Ziele? Was willst du bei der Arbeit bis Weihnachten erreichen? Gibt es irgendetwas in deiner Wohnung, die du angehen möchtest? Einen Schrank, der ausgemistet werden sollte. Bücher, Briefe, Kleidung… ? Vor ein paar Wochen habe ich mir vorgenommen, die ganze Wohnung aufzuräumen, putzen, alles aussortieren, usw. Ich hatte keine Energie dazu und suchte immer eine andere Ablenkung. Ich war total überfordert, und wusste nicht, wo ich anfangen soll. Und…ich war/bin müde und nicht in Stimmung für noch mehr Arbeit. Letzte Woche schrieb ich wieder einmal ein Liste, mit allen möglichen Dingen, die ich in der Wohnung tun „könnte“ — einfach Möglichkeiten. Wenn ich dann Mal Energie habe, oder mir langweilig ist, kann ich auf die Liste schauen, vielleicht irgendetwas aussuchen — wenn nur eine Schublade. Aber bisher habe ich nichts gemacht — es ist einfach zu viel los im Moment und ich kann nicht!!! Auch das darf sein, sage ich mir. Und wenn es nicht aufgeräumt es, was soll’s? Es rennt mir nicht davon. Im Moment brauche ich einfach etwas Ruhe. Heute vielleicht eine DVD anschauen, oder früh ins Bett gehen und lesen.

Die Müdigkeit und Unlust sind Warnzeichen für mich. Etwas ist zu viel, ich muss besser auf meine Energie achten. Wenn ich im Moment nichts ändern kann — z.B. derzeit ist einfach viel Arbeit, dann muss ich schauen. Wie kann ich es gestalten, damit es mir gut dabei geht? Prioritäten, auch loslassen und sagen: MORGEN!! Auch wenn der „perfekte“ Mensch es heute erledigen würde. Nein. MIr reicht’s für heute! Ich spüre, dass ich an meine Grenze komme. Mein Körper zeigt es mir auf. Dazu sind Körper gut — sie geben uns wichtige Infos, wenn wir bereit sind, zu hören. 😉 (Was ich nicht immer bin.)

Die Bücher habe ich 15-20 Jahre nach der Krankheit geschrieben. In den ersten Jahren danach, wollte ich nichts mehr davon wissen. Der Wunsch zu schreiben (der mit 16 Jahren schon da war), kam erst später zurück. Und ja, auch nach so vielen Jahren, es war ein heftiger Prozess. Immer wieder habe ich Wochen oder Monate pausieren müssen, um den Schmerz und die Trauer zu verarbeiten. Immer wieder der Gedanke: „Mann! Wenn ich nur damals an mich geglaubt hätte! Es wäre alles anders gekommen.“ Also war es noch einmal ein Trauerprozess, um Abschied von dem zu nehmen, was mir die Krankheit genommen hatte. Gar nicht so einfach.

Doch das ist nur die eine Seite. Die Krankheit hat mir auch viel geschenkt, wofür ich heute noch dankbar bin. Also gleicht es sich aus. Und irgendwann machte ich in der Ausbildung noch eine Übung. Nachdem wir unsere Biografien aufgeschrieben haben, machten wir eine Rückführung — drehten uns zurück bis zur Zeit vor unserer Geburt, und dann wieder zurück in die Gegenwart. Davor hatte ich Schiß. Ich wollte gewisse Kapitel nicht nochmals durchleben. Doch, bei der Übung wurde mir klar: Alles, alles was passiert ist: Es gehört alles zu mir, ist meine Geschichte. Und das ist in Ordnung, so wie es ist. Ich konnte alles betrachten, ohne zu werten ob es damals gut oder schlecht war. Es war einfach so wie es war. Diese Perspektive hilft mir immer wieder, wenn ich mal etwas zu selbstkritisch unterwegs bin. Ich versichere mir: Es passt so. Andere können es vielleicht besser, andere nicht. Aber ich kann es so, wie ich es kann. Basta!

So, jetzt habe ich geantwortet aber auch viel von mir geschrieben. Wie immer — nimm einfach das, womit du etwas anfangen kannst. Vergiß den Rest. Ich hoffe nur, irgendwas ist dabei 😉

Liebe Grüße aus dem nebligen Westen!“

Nächstes Kapitel

Jemand hat mich aufmerksam gemacht, dass ich am Blog nicht sehr präsent bin. Na ja, wenn innen viel los ist, kann es nach außen hin täuschen — alles wirkt so ruhig! Der Geburtstag ist schon wieder vorbei. Dieser Meilenstein hat mehr ausgelöst als erwartet.

Der Tag selbst war ganz nett. Eine Freundin kam überraschend zum Mittag vorbei. Am Nachmittag kamen dann einige Freundinnen und Freunde zum Kaffee und Kuchen. Und am Abend gingen wir gemeinsam ins Kino — wer Zeit hatte. Da ich erst eine Woche vorher wusste, wie ich feiern wollte, war die Einladung recht spontan. Zum Glück hatte mein Lieblingskino die Renovierung abgeschlossen und ein paar Tage davor neu eröffnet! Und zum Glück las ich darüber in der Zeitung! Der Film passte auch: „Moonrise Kingdom“ — Anno 1965 in Neuengland. (Nur 3 Jahre zu spät ;-))

Eine Freundin schrieb mir eine liebe Karte. Sie zählte einige Meilensteine von meinem Leben auf, die sie miterlebt hatte. Auf einmal wurde mir klar, dass zwischen 40 und 50 sehr viel passiert war. Wie bei jedem Neuanfang, mir war ein bisschen mulmig bei dem Gedanken: Und was jetzt? Was gibt es noch? Ich lasse diese alte Zeit los, und dann??? Hilfe!

Die Rettung kam mit der Erkenntnis: Hätte mir jemand vor 10 Jahren alles aufgelistet, was ich tun bzw. was passieren würde, hätte ich ihm den Vogel gezeigt. Niemals! So viel hätte ich mir nicht zugetraut. Doch hatte ich vor 10 Jahren auch keine großen Pläne — einfach weiter machen. Und so geht es mir heute, hier und jetzt. Ich habe keine Ahnung, was die Jahre mit sich bringen werden, keine großen Pläne (im Moment) aber jetzt bin ich zuversichtlich: Auch die nächsten 10 Jahre werden eine besondere Qualität haben, Überraschungen, Erfolge, Freude, neue Erfahrungen, Traurigkeit, Enttäuschung, Spaß, Spannung und Entspannung mit sich bringen. Ich mache einfach weiter. Wie bei den Talking Heads: „Same as it ever was.“