Der Drache und der Walnussbaum: die Geschichte hinter der Geschichte

Eines Tages begegnete ich einen Nachbarn mit seinen Kindern. Sie spazierten mit ihrem Drachen auf den Hügel hinter meinem Haus hinauf. Am Abend sah ich, wie der Drache hoch oben im Baum hing. Dort blieb er auch.

Über viele Monate hindurch, bewunderte ich den Drachen vom Wohnzimmer aus. Er ist mir richtig ans Herz gewachsen. Immer wieder fotografierte ich ihn. Er wurde mein „Hausdrachen“.

Im darauffolgenden Winter ereignete sich ein tragischer Unfall. Der Nachbar ist dabei gestorben. Ich war zutiefst erschüttert. Mir brach es das Herz, als ich an die Familie dachte – vor allem an die Kinder, die nun ohne ihren Papa aufwachsen müssen.

Auf einmal kam die Eingebung, dass ich eine Geschichte mit dem Drachen schreiben könnte. Eines Abends zündete ich in meinem Arbeitszimmer eine Kerze für ihn an und bettete. Ich ließ die Kerze weiter brennen, und plötzlich war die Geschichte da. Ich drehte mich zum Computer und die Erzählung floss einfach durch meine Finger über die Tastatur.

Danach wusste ich nicht, wie ich weiter tun soll. Ich hatte das Bedürfnis, von seiner Frau das Einverständnis zum Projekt einzuholen. Dazu schrieb ich ihr einen langen Brief, um mich überhaupt vorzustellen. Ja, obwohl wir im selben Dorf wohnen, kannten wir uns nicht! Den Brief und die Geschichte gab ich in ein Kuvert. Ich war unsicher und wollte nicht aufdringlich sein. Ein paar Tage später fasste ich Mut, spazierte hin und legte es in ihren Briefkasten.

Nach mehreren Tagen bedankte sie sich herzlich und meinte, da könne man schon was daraus machen, aber sie brauche Zeit, was verständlich war. Erleichterung machte sich in mir breit. Ihre positive Einstellung nahm ich als Erlaubnis, weiter daran zu arbeiten.
 
Ich stellte mir vor, ich wäre ein Kind und zeichne meine Geschichte. Es waren einige sehr intensive Monate. Öfters vergaß ich die Zeit und arbeitete bis tief in die Nacht. Meistens meldete sich dann mein Kater. Er sprang auf den Tisch und legte sich auf die Zeichnungen, um mir deutlich zu machen: „Jetzt ist genug für heute!“ 

Zu der Zeit ging es los mit unseren „Zufallsbegegnungen.“ Einige Tage später, gerade als ich an ihr Haus vorbeiging, fiel ein Rollo aus dem Fenster und landete auf die Straße direkt vor meinen Füßen! Ich überlegte, ob das ein „Zeichen“ sei, dass ich mich vorstellen soll – aber ich war verabredet und wollte den Bus erwischen.

Häufige Zufallsbegegnungen haben mich angespornt, weiter zu zeichnen und fertig zu werden. Ich habe keine Ahnung wie viele Stunden und Wochen ich dran gesessen bin, aber irgendwann spürte ich: Jetzt ist die Geschichte fertig.

Oft blickte ich auf das Haus im Vorbeigehen und spürte große Trauer. Die Verabschiedung war schon viele Monate her, aber ich spürte, wie die Mama mit ihren Kindern den Papa jeden Tag aufs Neue verlieren. Jeder Tag brachte neue Situationen, in denen sie ohne ihn klarkommen mussten. 

Eines Tages fiel mir ein, dass mein Urgroßvater und Großvater beide jung gestorben sind, und sie hinterließen Frauen mit kleinen Kindern. Es war nicht leicht für sie. Ich überlegte, ob mich diese Geschichte deshalb so betroffen gemacht hat. Ich spürte ein starkes Bedürfnis zu helfen. So entstand der Plan, dass die Einnahmen von diesem Kinderbuch den Kindern zugutekommen sollen.

Nachdem die Geschichte mit den Bildern fertig war, gab es längere Zeit keine Zufallsbegegnungen. Irgendwann schrieb ich ihr, dass die Bilder fertig waren und ich sie ihr gerne zeigen würde, wenn sie so weit ist. Da vergingen wieder einige Monate.
Auf einmal kam der Gedanke, die Geschichte soll mehr Gestalt annehmen – als Buch. Online ließ ich fünf Exemplare drucken. Ich hatte ein starkes Bedürfnis, es in Händen zu halten.  Es sollte be-greif-bar sein. Nachdem die Exemplare ins Haus geliefert wurden, überlegte ich, wie es weiter geht.

Eines Tages dachte ich mir: Jetzt habe ich sie schon lange nicht mehr gesehen. Wenn wir uns heute begegnen, ist es ein Zeichen, dass ich ihr das Buch geben soll. Eine Stunde später ging ich mit meinem Mann spazieren. Als wir an ihr Haus vorbeigingen, war sie draußen und räumte gerade etwas ins Auto. So ein Zufall!

Ein paar Tage später war es so weit. Ich gab das Buch in ein Kuvert, packte einige Mandarinen in eine Tasche für die Kinder, und ging los. Ich klingelte. Sie öffnete die Tür. Ohne mich vorzustellen, sagte ich nervös: „Ich habe dir Bio-Mandarinen mitgebracht. Sie sind sehr lecker und ich dachte, die Kinder freuen sich darüber.“ Sie lächelte: „Ja. Danke!“ Dann zeigte ich auf das Kuvert mit dem Buch und sagte: „Und das habe ich mit.“ Eine Umarmung und ein paar Sätze, dann ging ich nach Hause.

Einige Tage später kam eine liebe Rückmeldung. Ich fasste Mut und beschloss, ein paar Exemplare an Verlage zu senden. Zu meiner großen Überraschung kam recht bald eine positive Antwort. Da ich noch nicht ihr Segen für das Projekt hatte, zögerte ich mit meiner Zusage. 

In letzter Zeit war mir aufgefallen, dass der Drache ein paar Risse hat. Seine Farben leuchten nicht mehr so kräftig in der Sonne und das Material ist durch die Einwirkung der Witterung brüchig geworden. Er strahlt nicht mehr so wie früher. Vielleicht deshalb drängt es mich, weiter zu tun.

Eines Tages musste ich noch ins Dorf. Als ich wieder nach Hause ging, fuhr sie an mir vorbei und winkte. Ich deutete es als ein Wink der Bestimmung und schrieb ihr eine vorsichtige Textnachricht. Vielleicht war es noch zu früh für sie. Ich weiß es nicht. Kurze Zeit später rief sie an und gab grünes Licht.

Inzwischen ist das Buch fertig. Jetzt ist es so weit. Und vielleicht ist jetzt genau die richtige Zeit. Es ist im Bucher Verlag erschienen, und ist im Handel und online erhältlich. Inzwischen haben wir uns auch richtig kennengelernt, was mich sehr freut.

Ich habe die Geschichte nach dieser Begebenheit frei erfunden. Es geht um Verlust und Loslassen. Mit Hilfe von Zeit und den Jahreszeiten, wird der Verlust verarbeitet. Dann wandelt sich dieser Verlust in eine trostspendende Vorstellung. Ich hoffe, dass die Leser*innen trotz des traurigen Inhalts auch die Schönheit und Wahrheit des Lebens in dieser Geschichte wahrnehmen können.

So etwas habe ich noch nie erlebt. So viele zufällige Begegnungen! Ich glaube zwar an Schicksal und Zeichen, aber diese Geschichte und ihre Entstehung sind mir fast unheimlich. Dennoch stärkt es mein Glauben an den universellen Kräften, die überall sind, und daran, dass wir alle miteinander verbunden sind.